Porträt Corinna Rader, Foto: Catrin Schmitt

Corinna Rader

Provenienzforscherin

Liebe Corinna, seit dem 1. April 2020 betreibst Du im Bauhaus-Archiv Provenienzforschung. Was heißt das genau?

Ich beginne mal mit einer Definition: Provenienzforschung beschäftigt sich mit der Herkunft, dem Werdegang und den juristischen Besitzverhältnissen von Kunstwerken und Kulturgütern. Das Ziel ist es, eine möglichst lückenlose Kette der BesitzerInnen – vom Atelier des Künstlers oder der Künstlerin bis zu den aktuellen EigentümerInnen – zu ermitteln. Ich untersuche die Wege der Objekte bis in unsere Sammlung bei Werken, die ihren Besitzern unter den Nationalsozialisten verfolgungsbedingt entzogen wurden.

Wieso ist das für das Bauhaus-Archiv von Bedeutung?

Das Bauhaus-Archiv wurde zwar erst 1960 gegründet und konnte deshalb in der Zeit des Nazi-Regimes zwischen 1933 und 1945 nichts ankaufen, aber die Objekte, die hier gesammelt werden, sind im Kern zwischen 1919 und 1933 am Bauhaus in Weimar, Dessau und Berlin entstanden. Die Sammlungsgegenstände haben also die Herrschaft der Nationalsozialisten überdauert. Ihre Wege in diesen Jahren sind in vielen Fällen unbekannt.

Dabei ist besonders wichtig zu wissen, dass von den etwa 1.250 Angehörigen des Bauhauses wenigstens 200 jüdischer Herkunft waren. Das heißt, sie waren unter den Nazis Opfer von Verfolgung, mussten flüchten oder wurden sogar ermordet. Wir wissen von wenigstens 14 Bauhaus-KünstlerInnen, die in Konzentrationslagern starben. Bei ihren Werken müssen wir uns fragen: Wie kam das in unser Archiv?

Außerdem galt die Kunst vieler BauhäuslerInnen unter den Nazis als „entartet“. Soweit sich ihre Werke in Museen befanden, wurden sie im August 1937 im Zuge der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt und zur Devisenbeschaffung vorzugsweise ins Ausland verkauft. Zwar gehört die „entartete Kunst“ nicht zum NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgut, aber auch diese Fälle sind für unsere Sammlung „typisch“ und müssen dokumentiert werden.

Wie geht man da vor? Du musst als einzige Provenienzforscherin an unserem Haus die Herkunft des gesamten Sammlungsbestands prüfen?

Tja … das Bauhaus-Archiv bewahrt schätzungsweise eine Million Objekte. Eigentlich ist das Arbeit für mehr als ein Wissenschaftlerinnenleben. Aber ich fange eben vorn an bei Inventarnummer 1. Ich beforsche zunächst einmal die ersten 2.000 Inventarnummern, ganz chronologisch. In einem ersten Schritt suche ich nach Provenienzmerkmalen am Objekt, wie Aufschriften, Widmungen, Stempel, Etiketten, Nummern und dergleichen. Dann werte ich das immense Aktenmaterial aus, das hier im Haus vorhanden ist, aber auch Literatur natürlich und andere Datenbanken. Dabei habe ich, wie gesagt, immer ein besonderes Augenmerk auf Werke jüdischer KünstlerInnen.

Eigentlich ist das paradox: Am Bauhaus spielten Weltanschauung und Religion überhaupt keine Rolle. So muss ich in vielen Fällen erstmal rausfinden, wer eigentlich selbst jüdischer Herkunft oder mit einem Juden oder einer Jüdin verheiratet war. Dafür lese ich u. a. Biografien, wie gerade jetzt die von Ruth Vallentin (später Cidor-Citroën): „Vom Bauhaus nach Jerusalem“. Vallentin heiratete in eine jüdische Familie ein und teilte so das Schicksal der europäischen Juden und Jüdinnen. Auch zu den dramatischen Lebenswegen der Bauhäuslerinnen Otti Berger und Friedl Dicker konnte ich einiges herausfinden. So taste ich mich über die Biografien heran an die Kunst.

Das klingt wie Detektivarbeit …

Ja, ich verfolge Spuren ähnlich wie ein Detektiv. Aber so funktioniert eben auch wissenschaftliches Arbeiten. Meistens gibt es mehrere Anhaltspunkte, denen ich nachgehen kann. Manchmal kläre ich einen „Fall“ innerhalb von einer Stunde, manchmal braucht es aber auch sechs Monate und länger, um zu einer Bewertung zu kommen. Es kommt vor, dass ein Nachlass über die halbe Welt zerstreut ist und sich deshalb der Zugang zu den Quellen schwierig gestaltet. Aber glücklicherweise bin ich ja hier in einem Archiv, viele Quellen sind direkt vor Ort, denn unser Haus hat auch seine eigene Geschichte bestens dokumentiert.

Erzähle uns von einem Objekt, dessen Provenienz Du schon klären konntest!

Da wäre zum Beispiel die Grafik „Das Hoftor“ von Gerhard Marcks, die 1963 ins Bauhaus-Archiv gekommen ist. Darauf gestoßen bin ich, als ich das Inventarbuch durchging und bei einem Konvolut von Druckgrafiken hängenblieb, das beim Auktionshaus Klipstein und Kornfeld in Bern erworben wurde. Ich habe dann in der Kunstbibliothek den Auktionskatalog zu dieser 110. Auktion gefunden. Dort war vermerkt, dass ein Abzug des Blattes, das an diesem Tag in verschiedenen Exemplaren versteigert wurde, den Stempel des Kunstvereins Jena auf dem Blatt trage. Eine Prüfung in unserem Depot bestätigte, dass sich der Stempel tatsächlich auf unserem Blatt befindet. Das ist ein wichtiger Hinweis: Im Kunstverein Jena wurden nämlich vor allem KünstlerInnen gesammelt und ausgestellt, die später als „entartet“ gebrandmarkt wurden. Außerdem befindet sich auf der Rückseite die überdimensional große Nummer „13955“, geschrieben mit einem blauen Buntstift. Und damit wird es quasi zum Lehrbuchfall. Denn es handelt sich um die sogenannte EK-Nummer, mit der die als „entartet“ beschlagnahmten Kunstwerke erfasst wurden.

Über die Harry Fischer-Liste, das vollständigste bekannte Inventar der Aktion „entartete Kunst“, konnte ich herausfinden, dass die Grafik durch ein Tauschgeschäft an das Sammlerehepaar Fohn ging. Die in Italien ansässigen Fohns boten der Reichskulturkammer 25 Kunstwerke aus dem 19. Jahrhundert im Tausch gegen wenigstens 450 Werke „entarteter Kunst“ an. Auch danach kauften sie bei den mit der „Verwertung“ beauftragen KunsthändlerInnen, sodass sie letztendlich etwa 620 Werke aus ehemaligem Museumsbesitz erstanden und aus Deutschland herausbrachten. Dazu zählten wahrhafte Ikonen der Moderne.

Ein gutes Geschäft …

Ganz bestimmt! Die Fohns haben sich nach Kriegsende gern als die Retter der „entarteten Kunst“ inszeniert. Das ist zwar einerseits richtig, aber doch ein bisschen komplizierter. 220 der Werke stifteten sie tatsächlich 1964 den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Die verbleibenden etwa zwei Drittel haben sie aber schlicht gewinnbringend verkauft, und das zu einer Zeit, als die Kunst der Moderne begann, hohe Preise zu erzielen. Einer dieser Verkäufe erfolgte, wie wir nun wissen, 1963 über das Auktionshaus Klipstein und Kornfeld in Bern und brachte die Marcks-Grafik in die Sammlung des Bauhaus-Archivs.

Und was bedeutet diese Provenienz für das Bauhaus-Archiv?

Marcks „Hoftor“ wurde nicht NS-verfolgungsbedingt entzogen, das ist klar. Juristisch betrachtet ist es so: Das „Gesetz über die Einziehung von Produkten entarteter Kunst“ vom 31. Mai 1938 sah eine entschädigungslose Beschlagnahmung zugunsten des Deutschen Reiches vor. Und dieses Gesetz gilt bis heute. Marcks „Hoftor“ ist also rechtmäßiger Besitz des Bauhaus-Archivs. Dennoch wird eine solche Provenienz mitunter als moralischer Makel empfunden. Mir geht es in einem solchen Fall vor allem um den offenen und ehrlichen Umgang mit der Herkunft.

Wenn es also gar nicht immer um die Rückgabe von Kunstwerken geht, worum geht es dann?

Die systematische Suche nach NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut insbesondere aus jüdischem Vorbesitz ist eine moralische Verpflichtung. Ich arbeite gerade an Objekten, für die eine Herkunft aus Entziehungskontexten hoch wahrscheinlich scheint, aber die kann ich hier noch nicht vorstellen. Fortsetzung folgt!

Grundsätzlich profitieren alle Objekte von der Provenienzforschung. Ein Sammlungsobjekt ohne Herkunft, das ist ein bisschen wie ein Mensch mit Amnesie, der mit seiner Erinnerung seine Identität verliert. Zu wissen, wo etwas herkommt, welchen Weg es gegangen ist, bedeutet immer einen Gewinn z. B. auch für die Präsentation und Vermittlung im Museum: Ein schönes Objekt ist ein ästhetischer Genuss, doch mit einer interessanten Geschichte bleibt es im Gedächtnis haften!

Gerade im Hinblick auf die jüdischen BauhäuslerInnen ist meine Arbeit natürlich auch ein Beitrag zur Erinnerungskultur. Schon Hans Maria Wingler, der Gründungsdirektor des Bauhaus-Archivs, hat die Lebensgeschichten von BauhäuslerInnen jüdischer Herkunft recherchiert und ist dafür nach Israel und Osteuropa gereist. Insofern führe ich auch ein Anliegen des Gründungsdirektors fort.

Erfahren Sie mehr zu einzelnen Fällen der Provenienzforschung am Bauhaus-Archiv!